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Das Weite suchen

30. März 2021

Fenster, die die Natur einrahmen, würzige Gerüche und eine frische Brise, oder einfach nur barfuß durch den eigenen Garten laufen: Gründe, auf das Land zu ziehen, gibt es viele. Doch derzeit gibt es einen besonderen: Die großen Metropolen mit ihrer Dichte verlieren langsam ihren Reiz.

Von Barbara Jahn



Der Durst nach idyllischem Landleben ist wieder groß geworden – nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit. © Mariana de Delás & Gartnerfuglen, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz; Frame Publishers

 

 

Es gibt Menschen, die haben die Schnauze voll. Und es werden immer mehr. Wer kann, verlässt die Stadt und zieht aufs Land, um dort neu anzufangen. Neu anzufangen heißt, endlich mit frischer Luft durchzuatmen, die Stille genießen, die Weite spüren, die Einsamkeit suchen, ja, vielleicht sogar unerreichbar zu sein. An dieser Entwicklung hat nicht nur der kleine, unsichtbare Feind Schuld, der uns den neuen Gesichtsschmuck beschert, es ist vielmehr eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Was wohl diejenigen dazu sagen, die uns prophezeien, dass schon in ein paar Jahren gute Dreiviertel der Menschheit in Städten leben werden?

 

 


Explosion besonderen Maßstabs: Die Entwicklung der Städte innerhalb eines Jahrhunderts lässt fast den Atem stocken. © Ktrinko / wikipedia

 


Die aus Österreich stammende Trendforscherin Karen Rosenkranz, die selbst in London lebt, hat in ihrem Buch „City Quitters – Creative Pioneers Pursuing Post-Urban Life“ dieses in Anbetracht dieser Prognosen paradoxe Phänomen, das anscheinend zyklisch immer wiederkehrt, aufgegriffen und zeigt anhand von 22 individuellen Beispielen verschiedenste „Aussteiger“-Szenarien, die symbolisch für das stehen, was eine ganze Generation von Menschen bewegt. Und zwar immer mehr. Aber was bedeutet das eigentlich, wenn man die Entwicklung stichprobenartig in diversen „Speckgürteln“ internationaler Metropolen betrachtet?

 

Koste es, was es wolle


Die so genannten „City-Quitters“, wie Trendforrscherin Karen Rosenkranz die Stadtflüchtigen in ihrem Buch nennt, wollen einen Neubeginn. Meist bedeutet das erst, sein gesamtes Leben umzukrempeln, und auch das Bedürfnis wächst, dies an einem ganz anderen neuen Ort zu tun – nie war die Bereitschaft größer, einen radikalen Schnitt zu setzen.

 

Die „unbeschriebenen, weißen Blätter“ für neue Lebenskapitel finden sich oft im ländlichen Umfeld der Metropolen, manchmal aber auch ein Stück weiter weg. Wälder, Felder, Strand – alles gut, Hauptsache weg. Dieser Traum darf durchaus etwas kosten, denn die neue Lebensqualität, die man damit gewinnt, ist ohnehin unbezahlbar.

 

Nicht nur in Österreich, Deutschland und der Schweiz, obwohl Boden bereits rar und kaum erschwinglich wird und vielerorts – wie beispielsweise jüngst in Hamburg – bereits darüber nachgedacht wird, die Zersiedlung durch die weitere Ausdehnung von Städten in Form von Einfamilienhäusern einzudämmen oder gar zu verbieten, befindet sich dieser Trend zum beschaulichen Landleben im Aufwind: Auch in Paris, London und New York begibt man sich auf die Suche nach einer Idylle, die in den überfüllten Städten nicht mehr zu finden ist.

 

 


Beschauliche Abgeschiedenheit außerhalb der Städte wird zum neuen „Place to be“. 
© Claudia Rocha aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publishers


Adieu statt Au Revoir


Der Befreiungsschlag kann gelingen: Wer eine Millionen-Metropole gegen ein 1.000-Seelen-Dorf eintauscht, nimmt Druck und Geschwindigkeit aus seinem Leben heraus. Allein der Gedanke daran ist schon eine Wohltat. Um das Arbeitsleben braucht man sich nicht groß Sorgen: Das Home-Office ist sowieso seit ein paar Monaten fixer Bestandteil im Job, den Rest verbindet man mit dem Angenehmen und stattet der Stadt einen Kurzbesuch ab. Der Spieß dreht sich um.

 

In Paris zum Beispiel – wer hätte das je gedacht. Die Pariser, deren quirlige Stadtviertel und Kultur stets der ganze Stolz der Einwohner waren, kehren ihren kleinen Wohnungen und damit ihrer Stadt zunehmend den Rücken. Sich ein neues Zuhause außerhalb der Stadtgrenzen zu suchen erscheint attraktiv und verführerisch – es ist günstiger und hochqualitativ. Paris selbst ist ein teures Pflaster, wo sich viele nur noch Wohnungen in der Peripherie leisten können, die Enge eines urbanen Lebensumfeldes jedoch trotzdem zu spüren ist. Bevor es zu einem nächsten Lockdown oder ähnlichen Szenarien kommt, bemüht man die Immobilienmakler, die einiges im Pariser Umland, aber auch an den französischen Küsten anzubieten haben. Die Telefone laufen heiß.

 

 


Ausweg gesucht: In den künftigen Mega-Cities sollen mehr als 2.000 Menschen pro Quadratkilometer leben. © Iberola

 

 

Operation „Glückliches Landei“


Ähnliche Beweggründe sind es auch jenseits des Ärmelkanals, die immer mehr Londoner dazu verleiten, sich im Grünen umzusehen. Die britische Hauptstadt platzt aus allen Nähten, die Vorstädte quellen über, und die Straßen werden immer voller, obwohl die ja nach dem großen Londoner Feuer im Jahr 1666 in allen europäischen Großstädten deutlich verbreitert wurden. Mit Abstandregeln ist es im täglichen Gedränge schwierig, und bei der nächsten Ausgangssperre in den dicht besiedelten Bezirken haben nur noch wenige Lust auf aufgeheizte Stimmung und soziale Konflikte.

 

Seit der letzten Krise 2008 gab es in Großbritannien keinen derartigen Ansturm mehr auf die Häuschen im Grünen, für das viele Briten nicht wenig Geld in die Hand nehmen, auch weil die begehrten Regionen wie Cornwall und Devon auf ein kapitales Rekordhoch zusteuern. Vom feudalen Landsitz bis zum verträumten Cottage findet alles seinen neuen Besitzer, und während der eine fleißig restauriert, baut sich der andere gleich selbst sein Traumhaus.

 

Es hat sich ausgeträumt


Noch eines weiter, über den großen Teich, nach New York. Bereits nach 9/11 stieg die Nachfrage nach Domizilen außerhalb des Big Apples, doch diesmal ist es noch viel mehr. Der Wunsch, der Hektik zu entrinnen, die winzigen Apartments gegen ein paar tausend Quadratmeter eigenes Land einzutauschen, wird in die Realität umgesetzt, und die eigenen Träume zu leben liegt wohl in der DNA eines jeden Amerikaners. Grundstücke und Liegenschaften in Long Island, New Jersey, Connecticut und im Staat New York selbst finden reißenden Absatz für ein Stück vom Glück. So wird auch hier das Grün zu Gold – natürlich im übertragenen Sinn.

 

 


Wie weit ist weit genug? Der gestiegene Stellenwert der inneren Balance lässt auf bisher eher ungewöhnliche Lebensumgebungen zurückgreifen. 
© Arnie Galbraith, aus "City Quitters" von Karen Rosenkranz, Frame Publisher

 

 

Noch einmal neu durchstarten


Ganz egal, welche Nation man genauer betrachtet – es ist allen eines gemeinsam: Es wird darauf geachtet, dass ressourcenschonend gebaut, sensibel geplant, nachhaltig mit Energie versorgt und Bestehendes revitalisiert wird. Neues fügt sich perfekt in die Umgebung ein, Lücken werden geschlossen, Dorfstrukturen wieder aufgefrischt und der Einklang zur Natur gesucht. Doch nur mit Bedacht und Weitsicht kann das globale Projekt gelingen, und hier ist natürlich auch die Politik gefordert: Das nützen, was schon da ist. Vielleicht findet man da draußen nicht alles, was die Großstadt einem bieten kann. Aber dass man mit weniger so viel glücklicher werden kann, ist eine Entdeckung, die auch in Zukunft sicher noch viele machen werden.

 


Anregende Lektüre: „City Quitters – Creative Pioneers Pursuing Post-Urban Life“ von Karen Rosenkranz, erschienen bei Frame Publishers © Frame Publishers

 

 

Buchtipp:

In „City Quitters – Creative Pioneers Pursuing Post-Urban Life“ erzählt die in London lebende österreichische Trendforscherin und Autorin Karen Rosenkranz 22 höchst individuelle Geschichten von Menschen aus aller Welt, die von der Großstadt aufs Land gezogen sind und geht dabei den Motiven, Gefühlen und Beweggründen auf den Grund.

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